Gretchenfrage: Muttermilch pasteurisieren?
Bei den Maßnahmen zur Prävention postnataler CMV-Infektionen scheiden sich die Geister: Ist es gerechtfertigt, die Muttermilch zu pasteurisieren? Oder entzieht man durch die Pasteurisierung zu viele wertvolle Muttermilch-Bestandteile – treibt also quasi den Teufel mit Beelzebub aus? Dieser Frage widmeten sich in einer spannenden Pro-Kontra-Diskussion Rangmar Goelz, Tübingen, und Christoph Härtel, Lübeck.
CMV – die Fakten
Nach einer durchgemachten Infektion persistiert das Zytomegalie-Virus (CMV) als typisches Virus der Herpesgruppe lebenslang in den infizierten Körperzellen. Von dort kommt es fast regelhaft zur Reaktivierung in der Brust von stillenden Müttern, sodass lebende Viren über die Muttermilch das Kind infizieren können. Während eine solche Infektion bei reifen Neugeborenen und größeren Säuglingen in der Regel nahezu unbemerkt verläuft, kann sie bei unreifen Frühgeborenen einen schweren Verlauf nehmen. Mit einer Infektion ist bei rund jedem dritten VLBW-Frühgeborenen zu rechnen, wenn es CMV-positive Milch erhält. Diese Rate ist allerdings in verschiedenen Studien divergent und wird bisweilen auch deutlich niedriger angegeben, wie Härtel betonte. Die Infektion verläuft bei etwa jedem Zweiten symptomatisch,¹⁻² und zwar umso schwerer, je jünger und unreifer es ist und je früher die Virus-Transmission stattfindet.³
Die gute Nachricht: Im Alter von etwa sechs Jahren leiden die Betroffenen weder häufiger unter Hörverlust noch unter einer Zerebralparese als ihre nicht CMV-erkrankten Altersgenossen, wie eine systematische Matched-Control-Nachuntersuchung mit insgesamt 100 ehemaligen VLBW-Frühgeborenen in Tübingen ergeben hat. Die schlechte Nachricht: In ihrer kognitiven Entwicklung hinken die CMV-Kinder den nicht erkrankten etwas hinterher.⁴ Dies machte sich vor allem bei den schwierigeren, simultan zu erledigenden Items des Kaufmann-ABC bemerkbar, so Goelz. „Wenn die Kinder jung sind, dann sieht man noch keine Unterschiede. Doch wenn sie ins Schulalter kommen, wenn die Tests komplexere Aufgaben umfassen, dann werden sie dort schlechter.“ Das zeigt sich auch am Intelligenzquotienten: Im Alter von 11 bis 13 Jahren schnitten Kinder nach Adjustierung um soziokulturelle Einflüsse nach postnataler CMV-Infektion im HAWIK4 signifikant schlechter ab und erreichten im Schnitt nur 93 Punkte – zehn weniger als die Kontrollgruppe mit 103.⁵ Nota bene: Die Kinder mit niedrigerem IQ hatten alle rohe, unbehandelte Muttermilch bekommen. Es fehlen allerdings weitere gut kontrollierte Studien, die diese Ergebnisse zumindest für wesentliche Einflussfaktoren von neurokognitiven Leistungen im Schulalter (z.B. höchster Bildungsabschluss der Eltern) adjustieren/korrigieren, wie Härtel betonte.
Pasteurisierung – die Fakten
Um Frühgeborenen den Genuss von Muttermilch zu ermöglichen, ohne sie dabei der Gefahr einer CMV-Infektion auszusetzen, gibt es verschiedene Möglichkeiten. Sehr einfach durchführbar ist die Gefrier-TauMethode, bei der die Muttermilch für drei Tage bei -20 °C eingefroren wird. „Der Charme dieser Methode besteht darin, dass die Milch hinterher biochemisch unverändert ist“, so Goelz. „Weniger charmant ist, dass sie keine 100-prozentige Inaktivierung des Virus gewährleistet.“ Daher lässt sich die Infektionsgefahr zwar senken, aber nicht eliminieren.
Eine absolut zuverlässige Virus-Eliminierung lässt sich durch die sogenannte Holder-Pasteurisierung erreichen – eine Methode, die in Deutschland zur Muttermilch-Pasteurisierung mit Abstand am häufigsten eingesetzt wird.⁶ Dabei wird die Milch für 30 Minuten auf 62,5 °C erhitzt. Doch nicht nur den Viren rückt diese Form der Pasteurisierung zu Leibe, sondern auch vielen Enzymen und Wachstumsfaktoren in der Muttermilch. Schonender für Wachstumsfaktoren und Enzyme ist dagegen die Kurzzeit-Pasteurisierung, bei der die Milch für nur 5 Sekunden auf 62 °C gebracht wird. Bei dieser Methode behalten selbst Antikörper ihre Leistungsfähigkeit.⁷ Generell wird in der weit überwiegenden Anzahl der Zentren in Deutschland die Muttermilch für Frühgeborene pasteurisiert – so die Daten des Deutschen Frühgeborenen-Netzwerkes (GNN), die Christoph Härtel anführte. Nur 13 von 54 Zentren verzichten darauf. Dabei wird – darauf deuten zumindest Daten aus Frankreich⁸ hin – bisweilen quasi „routinemäßig“ pasteurisiert, ohne den CMV-Status der Mutter zu berücksichtigen.
PRO Pasteurisierung
„Unser Motto in Tübingen: Ja, wir wollen die Muttermilch, aber wir wollen sie risikofrei haben.“ Auf diese knackige Formel brachte Goelz seinen Standpunkt zum Thema Pasteurisierung der Muttermilch. Deshalb erfolgt in Tübingen immer dann eine Kurzzeit-Pasteurisierung der Muttermilch, wenn es sich um Frühgeborene mit Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm oder Gestationsalter unter 32 Wochen handelt, deren Mütter positiv für CMV-Antikörper getestet wurden, was bei rund der Hälfte der Frauen der Fall ist. Die Pasteurisierung wird fortgesetzt bis zum korrigierten Alter von 34 Wochen – es sei denn, die Muttermilch ist nachweislich CMV-negativ. Dass das funktioniert, belegt eine aktuell veröffentlichte klinische Studie mit 87 VLBWFrühgeborenen, die mit Kurzzeit-pasteurisierter Muttermilch gefüttert wurden, im Vergleich zu einer mit roher Muttermilch gefütterten historischen Kohorte: Während bei letzterer die CMV-Infektionsrate bei 17 von 83 lag, sank sie durch die Kurzzeit-Pasteurisierung auf 2 von 87.⁹
Derzeit gibt es keine evidenzbasierte antivirale Therapie für eine postnatale CMV-Infektion. Umso wichtiger ist die Prävention, davon ist Goelz überzeugt – insbesondere da nicht auszuschließen ist, dass die Infektion langfristige Auswirkungen auf das sich entwickelnde Gehirn hat und kognitive Defizite befürchtet werden müssen. Sein klares Votum: „Wir müssen pasteurisieren, das ist doch sonnenklar.“ Beschränkt man die Zielgruppe auf die oben beschriebene Risikopopulation, ergibt sich in Tübingen ein Pasteurisierungsgebot für ca. 70 Frühgeborene pro Jahr – bezogen auf etwa 925 stationär behandelte Früh- und Neugeborene – ein überschaubarer und gerechtfertigter Aufwand, findet Goelz.
KONTRA Pasteurisierung
„Grundsätzlich geht es uns allen um die Balance zwischen der Sicherheit des Kindes und der Förderung seines individuellen Entwicklungspotenzials“, konstatierte Härtel. Aufgrund der eingeschränkten Datenlage sind dabei die Empfehlungen hinsichtlich der Muttermilch-Pasteurisierung ebenso variabel wie ihre Umsetzungen. „Die entscheidende Frage muss daher lauten: Wie schädlich ist eine postnatale CMV-Infektion für Frühgeborene? Die epidemiologischen Daten dazu sind absolut uneinheitlich!“ Was jedoch feststeht, ist, dass man durch die Pasteurisierung das komplexe Ökosystem der Muttermilch erheblich beeinträchtigt und eine Darm-Dysbiose begünstigt, die ihrerseits der nekrotisierenden Enterokolitis (NEC) ebenso wie der Sepsis Tür und Tor öffnet.¹⁰
Es gibt bestimmte hitzelabile Faktoren in der Muttermilch – beispielsweise MikroRNA, Stammzellen, Hormone wie Neurotrophin, aber auch volatile Geruchssubstanzen, die wichtig sind für die kindliche Entwicklung, und nicht zuletzt die probiotischen Bakterien und deren Metabolite – die ihre entwicklungsfördernden Effekte ausmachen. Durch Pasteurisierung gehen diese Faktoren dem Frühgeborenen verloren – ein Verlust, „dessen Konsequenzen für eine gesunde Entwicklung wir noch gar nicht vollständig verstanden haben“, ist Härtel überzeugt. Deshalb plädiert er gegen eine routinemäßige Pasteurisierung der Milch CMV-positiver Mütter, da er befürchtet, dass der Verlust an protektiven Faktoren in der Muttermilch durch die Pasteurisierung den Zugewinn an Sicherheit hinsichtlich einer CMV-Infektion nicht aufwiegt. Eine Ausnahme sieht er jedoch für sehr unreife Frühgeborene unter 26 Wochen, die durch eine CMV-Infektion in ganz besonderem Maße gefährdet wären.
Disputanten: Dr. Rangmar Goelz, Abteilung für Neonatologie, Universitätskinderklinik Tübingen Prof. Dr. Christoph Härtel, Klinik für Kinder- und Jugendmedizin, Universitätsklinik Schleswig-Holstein, Campus Lübeck
Vorträge: Wir pasteurisieren Muttermilch (fast) immer! Wir glauben nicht (mehr) an die Pasteurisierung!
Referenzen:
[1] Hamprecht K, Maschmann J, Vochem M, et al. Epidemiology of transmission of cytomegalovirus from mother to preterm infant by breastfeeding. Lancet 2001; 357: 513–8 .
[2] Hamprecht K, Maschmann J, Jahn G, et al. Cytomegalovirus transmission to preterm infants during lactation. J Clin Virol 2008; 41: 198–205.
[3] Maschmann J, Hamprecht K, Dietz K, et al. Cytomegalovirus infection of extremely low-birth weight infants via breast milk. Clin Infect Dis 2001; 33: 1998–2003 .
[4] Goelz R, Meisner C, Bevot A, et al. Long-term cognitive and neurological outcome of preterm infants with postnatal acquired CMV infection through breast milk. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 2013; 98: F430–3 .
[5] Brecht KF, Goelz R, Bevot A, et al. Postnatal human cytomegalovirus infection in preterm infants has long-term neuropsychological sequelae. J Pediatr 2015; 166: 834–9 .
[6] Klotz D, Jansen S, Gebauer C, Fuchs H. Handling of breast milk by neonatal units: large differences in current practices and beliefs. Front Pediatr 2018; 6: 235.
[7] Maschmann J, Müller D, Lazar K, et al. New short-term heat inactivation method of cytomegalovirus (CMV) in breast milk: impact on CMV inactivation, CMV antibodies and enzyme activities. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 2019 Feb 6. pii: fetalneonatal-2018-316117. doi: 10.1136/archdischild-2018-316117. [Epub ahead of print].
[8] Lopes AA, Champion V, Mitanchez D. Nutrition of preterm infants and raw breast milk-acquired cytomegalovirus infection: French National Audit of Clinical Practices and Diagnostic Approach. Nutrients 2018 Aug 18; 10. pii: E1119. doi: 10.3390/nu10081119 .
[9] Bapistella S, Hamprecht K, Thomas W, et al. Short-term pasteurization of breast milk to prevent postnatal cytomegalovirus transmission in very preterm infants. Clin Infect Dis 2018 Nov 8. doi: 10.1093/cid/ciy945. [Epub ahead of print] .
[10] Graspeuntner S, Waschina S, Künzel S, et al. Gut dysbiosis with Bacilli dominance and accumulation of fermentation products precedes late-onset sepsis in preterm infants. Clin Infect Dis 2018 Oct 16. doi: 10.1093/cid/ciy882. [Epub ahead of print].
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