Die neurologische Last der "späten" Frühchen
Jede Woche im Mutterleib zählt – zu diesem Ergebnis kommt eine groß angelegte schwedische Kohortenstudie, die das neurologische Langzeit-Follow-up von über einer Million Reifgeborener mit dem von moderat oder spät frühgeborenen Kindern mit 32 bis 36 Gestationswochen verglichen hat. Dabei ergab sich, dass das Risiko für Behinderungen, kognitive oder motorische Beeinträchtigungen, Seh- und Hörstörungen mit abnehmendem Gestationsalter kontinuierlich steigt. Das gilt bereits für formal reifgeborene Kinder mit 37 oder 38 Wochen.
Die neurologische Last der "späten" Frühchen
Auf den neonatologischen Intensivstationen stehen aufgrund der Vielzahl an Komplikationen, die bei ihnen gehäuft auftreten, meist die sehr unreifen Frühgeborenen im Fokus. Zahlenmäßig um ein Vielfaches häufiger werden jedoch moderat oder spät Frühgeborene neonatologisch betreut. Was dabei leicht in den Hintergrund tritt, ist die Tatsache, dass auch sie ein erhöhtes Risiko für entwicklungsneurologische Auffälligkeiten im weiteren Verlauf tragen – ein Umstand, der nicht nur für die betroffenen Kinder und ihre Familien schicksalhaft ist, sondern auch das öffentliche Gesundheitswesen gravierend belastet.
Um die Folgen der "späten" Frühgeburtlichkeit genauer beziffern zu können, wurde nun in einer groß angelegten schwedischen Kohortenstudie die langfristige neurologische Entwicklung von Frühgeborenen mit 32 bis 36 Gestationswochen untersucht. Eingeschlossen waren sämtliche Kinder, die in den Jahren 1998 bis 2012 mit einem Gestationsalter zwischen 32+0 und 41+6 Wochen geboren wurden, mit Ausnahme von Mehrlingen sowie Kindern mit schweren angeborenen Fehlbildungen. Die Kohorte umfasste die stattliche Zahl von 1.281.690 Kindern; das mediane Follow-up betrug 13 Jahre (Quartilsabstand: 9,5–15,9 Jahre).
Ausgewertet wurden Daten, die über das schwedische medizinische Geburtsregister, das nationale Patientenregister, das Bevölkerungsregister, das Bildungsregister sowie das Todesursachenregister verfügbar waren. Gefahndet wurde nach folgenden Diagnosen: motorische oder kognitive Einschränkungen, epileptische Anfälle sowie Seh- oder Hörminderung. Unter dem Sammelbegriff "schwere Behinderung" wurden Zerebralparesen, schwere geistige Behinderung, generalisierte epileptische Störungen sowie schwere Seh- oder Hörbehinderungen zusammengefasst.
Insgesamt fand man bei 75.311 Kindern mindestens eine dieser Diagnosen. Dabei handelte es sich am häufigsten um kognitive Beeinträchtigungen (n=27.271), gefolgt von Hör- und Sehstörungen (n=20.393 bzw. 19.700). Schwere Behinderungen traten bei 8052 Kindern auf; 1890 Kinder sind im Beobachtungszeitraum verstorben.
Wie zu erwarten, verteilten sich diese Diagnosen nicht gleichmäßig über die gesamte Geburtskohorte, sondern nahmen mit absteigendem Gestationsalter an Häufigkeit zu. Im Vergleich zu Kindern, die mit 39–40 Wochen zur Welt gekommen waren, war das generelle Risiko, an mindestens einer dieser Diagnosen zu leiden, bei Frühgeborenen mit 32–33 Wochen 1,7-fach erhöht (Hazard ratio 1,73; 95%-CI 1,60–1,87). Insbesondere motorische Beeinträchtigungen waren fast 5-fach häufiger (Hazard ratio 4,70; 95%-CI 3,95–5,59); bei schweren Behinderungen erhöhte sich das Risiko um den Faktor 3,56 (95%-CI 3,00–4,22). Mit steigendem Gestationsalter nahm dieses Risiko kontinuierlich ab und sank für Kinder mit 34–36 Wochen auf 1,30 (95%-CI 1,26–1,35). Für früh Reifgeborene (37–38 Gestationswochen) war es mit 1,08 im Vergleich zu Termingeborenen (39–40 Wochen) noch leicht erhöht (95%-CI 1,06–1,11) und am niedrigsten für Kinder, die nach 41 Wochen geboren wurden (Hazard ratio 0,98; 95%-CI 0,96–1,00). Wiesen die Frühgeborenen zusätzlich ein niedriges Geburtsgewicht unterhalb der 10. oder gar der 3. Perzentile auf, war dies mit einer zusätzlichen Risikoerhöhung assoziiert.
Referenz: Mitha A, Chen R, Razaz N, et al. Neurological development in children born moderately or late preterm: national cohort study. BMJ 2024; 384: e075630
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