Mehr als nur ein „Bauchgefühl“
Die Daten verdichten sich, dass die Darmflora nicht nur für die Verdauung bedeutsam ist, sondern möglicherweise auch an der Ausbildung des Immunsystems und der Gehirnentwicklung beteiligt ist. Viel davon ist erst in Ansätzen verstanden, doch es erscheint essenziell, die Entwicklung eines gesunden Mikrobioms bei Frühgeborenen bestmöglich zu unterstützen. Dysbiotische Veränderungen können bereits in utero beginnen und viele iatrogene Faktoren – sogar CPAP! – tragen ihren Teil zur Destabilisierung der Darmflora bei. Bei Frühgeborenen, die eine nekrotisierende Enterokolitis (NEC) entwickeln, findet man gravierende Abweichungen im Mikrobiom. Diese lassen sich bereits Tage vor Manifestation der Erkrankung indirekt anhand der volatilen organischen Substanzen im Stuhl nachweisen. Das könnte die Möglichkeit bergen, eine NEC früher und sicherer zu diagnostizieren als bisher.
Enterale Ernährung, Darmischämie und bakterielle Infektionen gehören zu den wichtigsten pathogenetischen Einflussfaktoren bei der NEC-Entstehung – das ist bereits seit Jahrzehnten bekannt. Sehr wahrscheinlich spielen auch eine genetische Prädisposition und die generelle Unreife des kindlichen Darm- und Immunsystems eine wichtige Rolle. „Seither ist leider nur wenig an Erkenntnis hinzugekommen“, konstatierte Boris W. Kramer, Maastricht. Bei Frühgeborenen, die eine NEC entwickeln, ist die Stuhlpassage häufig verlangsamt. Die gleiche Beobachtung macht man bei völlig keimfrei gehaltenen Mäusen: Ihre Peristaltik ist im Vergleich zu Mäusen mit normalem Darm-Mikrobiom vermindert. Eine mögliche Erklärung könnte sein: Das Darm- Mikrobiom produziert Metabolite, die in den enterochromaffinen, endokrin aktiven Zellen des Kolons die Ausschüttung von Neurotransmittern wie Serotonin aktivieren. Diese triggern ihrerseits als Neurotransmitter die Darmkontraktion. „Der Darminhalt trägt also auf direktem Weg zur Darmperistaltik bei“, so Kramer. Dass das vielzitierte „Bauchgefühl“ mehr ist als eine bloße Metapher, dafür spricht schon die schiere Anzahl der Neuronen, die im Darmgewebe verteilt sind: rund 100 Millionen – mehr als im gesamten Spinalmark. Sie sorgen dafür, dass der Nervus vagus 90 % seines Inputs aus dem Darm erhält. Immerhin befinden sich auch 95 % des körpereigenen Neurotransmitters Serotonin im Darm. „Dieses System ist viel zu komplex, um einfach nur den Stuhl durch das Kolon zu bewegen“, so Kramer.
Darm-Mikrobiom beeinflusst die Gehirnentwicklung
Dies zeigt sich auch an den keimfreien Mäusen: Sie unterscheiden sich nicht nur durch eine verlangsamte Darmpassage von ihren mit physiologischem Mikrobiom besiedelten Altersgenossen – sie verfügen auch über ein schlechteres Gedächtnis und zeigen ein ausgeprägteres Risikoverhalten. Diese Veränderungen scheinen chemisch gesteuert zu sein, denn gleichzeitig haben die keimfreien Mäuse einen beschleunigten Dopamin-, Noradrenalin- und Hydroxytryptaminumsatz, während Synaptophysin, das in der Membran der synaptischen Vesikel an Ausschüttung und Wiederaufnahme der Neurotransmitter beteiligt ist, bei diesen Tieren deutlich erniedrigt ist. „Das bedeutet, dass auch das Gehirn der keimfreien Mäuse strukturell verändert ist“, konkretisierte Kramer. „Und diese strukturellen Veränderungen scheinen selbst nach Rekonstituierung einer physiologischen Darmflora nicht vollständig reversibel zu sein.“
CPAP spült zu viel Sauerstoff in den Darm
Unter physiologischen Umständen sorgen die Enterozyten durch Betaoxidation für hypoxische Verhältnisse im Darmlumen, die das Wachstum anaerober Bakterien begünstigen. Diese Hypoxie wird jedoch durch die Atmungsunterstützung mit CPAP gefährdet, gelangt doch dabei stets auch ein Teil des Atemgases in das Darmsystem. Das ist nicht so unproblematisch, wie es im ersten Moment klingt: Denn während das physiologische Mikrobiom in der Regel von Anaerobiern dominiert wird, nehmen bei Dysbiose die aeroben pathogenen Bakterien überhand. „Wenn durch CPAP vermehrt Sauerstoff in das Darmsystem kommt, verändert dies nicht nur das Mikrobiom des Darms, sondern auch sein Immunsystem“, so Kramer. Denn die veränderte Stoffwechsellage aktiviert auch das Immunsystem und führt zu einer Entzündungsreaktion, die in eine NEC münden kann. Eine brasilianische Arbeitsgruppe hat durch den Vergleich von Stuhlproben herausgefunden, dass die Darmflora Frühgeborener, die im Verlauf eine NEC entwickeln, eine geringere mikrobielle Diversität aufweist und sie häufiger mit Citrobacter kosei und Klebsiella pneumoniae besiedelt sind, während bei Frühgeborenen ohne NEC die Lactobacillus- Arten überwiegen. Insofern besteht kein Zweifel, dass Frühgeborene, die eine NEC entwickeln, ein verändertes Mikrobiom besitzen.
Dysbiose beginnt nicht erst ab der Geburt
„Doch die Frage ist: Wann beginnen diese dysbiotischen Veränderungen?“, fragteKramer. Möglicherweise muss man für die Antwort sehr weit zurückblicken, denn die Weichen könnten bereits intrauterin gestellt werden. Wie man inzwischen weiß, ist die Amnionhöhle nämlich mitnichten steril, wie man lange angenommen hat. Und sogar das mütterliche Endometrium ist von einem Mikrobiom besiedelt, dessen Zusammensetzung die Implantation begünstigen oder verhindern kann und auch mit Fehlgeburten in Zusammenhang gebracht wird. Bereits im Moment der Konzeption ist eine infektiöse Besiedelung nicht ausgeschlossen; so können Ureaplasmen vermutlich Spermien als Vektoren nutzen, wie Kramer schilderte. Wir müssen also davon ausgehen, dass menschliches Leben bereits ab der ersten Zellteilung von bakteriellen Einflüssen begleitet wird. Wahrscheinlich kommt der Fetus während der gesamten Schwangerschaft mit Bakterien aus dem mütterlichen Organismus in Kontakt – insbesondere mit aufsteigenden Keimen aus dem Vaginaltrakt sowie mit Darmbakterien. Die Zusammensetzung des Mikrobioms eines Früh- oder Neugeborenen wird daher von vielen Einflüssen bestimmt: Die mütterliche Flora, der Geburtsmodus, die Ernährung sowie die Gabe von Antibiotika sind nur einige davon. Welchen Stellenwert dabei die Chorioamnionitis besitzt, ist nach wie vor nicht ganz klar. Man weiß aber, dass Ureaplasmen die am häufigsten bei Chorioamnionitis nachweisbaren Bakterien sind, und man weiß auch, dass es bei Schaf-Feten, die eine Chorioamnionitis mit Ureaplasmen erlitten haben, zu massiven Schädigungen der Darmschleimhaut kommt.
„VOC“: metabolischer Fingerabdruck der Darmflora
Während der Stoffwechselaktivität eines jeden Lebewesens entstehen organische Metabolite, die so winzig sind, dass sie bei Raumtemperatur flüchtig sind: sogenannte „volatile organic compounds“, kurz VOCs. „Diese VOCs sind quasi ein metabolischer Fingerabdruck der Stoffwechselaktivität der jeweiligen Zelle – oder des Bakteriums“, erläuterte Kramer. Theoretisch könnte man sie riechen – doch dazu sind unsere Nasen nicht fein genug. Dass manche Hunde in der Lage sind, Krebszellen förmlich zu wittern, verdanken sie solchen von Tumorzellen freigesetzten VOCs. Das gleiche Prinzip liegt der „eNose“ zugrunde: einer „elektronischen Nase“, die die VOCs, die beispielsweise aus einer Stuhlprobe freigesetzt werden, erfasst und über ausgefeilte Mustererkennungs- Algorithmen den Bakterienspezies zuordnet, von denen sie stammen.
eNose erschnüffelt NEC
Dies kann man sich für die NEC-Erkennung zunutze machen. Denn die fäkalen VOC-Profile von Frühgeborenen verändern sich, wenn sich eine NEC ankündigt – und diese Muster lassen sich mit der eNose identifizieren. Dies hat eine klinische Studie gezeigt, in der prospektiv die Stuhlproben von fast 100 Frühgeborenen mit einem Gestationsalter von maximal 30 Wochen bis zum 28. Lebenstag gesammelt und ihre VOCs mittels eNose analysiert wurden. Anhand des klinischen Verlaufs werden die VOC-Profile von 13 Frühgeborenen mit NEC mit denen von 14 gematchten Kontrollen verglichen. Es zeigte sich, dass die VOC-Profile der NEC-Kinder bereits zwei bis drei Tage vor der klinischen Manifestation der Erkrankung signifikant von dem der gesunden Kinder abwichen. „Diese Veränderungen der metabolischen Aktivität sind ein Indiz für entsprechende Veränderungen in der Zusammensetzung des Darm-Mikrobioms“,ist sich Kramer sicher. Natürlich muss sich das Verfahren noch in weiteren, größer angelegten Studien beweisen, aber es scheint in der Lage zu sein, auf einfache und nicht-invasive Weise NEC-gefährdete Frühgeborene früh und zuverlässig zu erkennen.
Referent: Prof. Dr. Boris W. Kramer, Maastricht University Medical Center, Maastricht/NL
Vortrag: Necrotizing enterocolitis, gut microbiota and brain development: Role of gut-brain axis
[1] Sántulli TV, Schullinger JN, Heird WC, et al. Acute necrotizing enterocolitis in infancy: a review of 64 cases. Pediatrics 1975; 55: 376 – 87 .
[2] Abrams GD, Bishop JE. Effect of the normal microbial flora on gastrointestinal motility. Proc Soc Exp Biol Med 1967; 126: 301 – 4.
[3] Niemarkt HJ, De Meij TG, van Ganzewinkel CJ, et al. Necrotizing enterocolitis, gut microbiota, and brain development: role of the brain-gut axis. Neonatology 2019; 115: 423–31 .
[4] Dobbler PT, Procianoy RS, Mai V, et al. Low microbial diversity and abnormal microbial succession is associated with necrotizing enterocolitis in preterm infants. Front Microbiol 2017; 8: 2243 .
[5] Moreno I, Codoñer FM, Vilella F, et al. Evidence that the endometrial microbiota has an effect on implantation success or failure. Am J Obstet Gynecol 2016; 215: 684 – 703.
[6] Walker RW, Clemente JC, Peter I, Loos RJF. The prenatal gut microbiome: are we colonized with bacteria in utero? Pediatr Obes 2017; 12 Suppl 1: 3 – 17 .
[7] Tamburini S, Shen N, Wu HC, Clemente JC. The microbiome in early life: implications for health outcomes. Nat Med 2016; 22: 713 – 22 .
[8] Kikhney J, von Schöning D, Steding I, et al. Is Ureaplasma spp. the leading causative agent of acute chorioamnionitis in women with preterm birth? Clin Microbiol Infect 2017; 23: 119.e1 – e7 .
[9] Wolfs TG, Kallapur SG, Knox CL, et al. Antenatal ureaplasma infection impairs development of the fetal ovine gut in an IL-1-dependent manner. Mucosal Immunol 2013; 6: 547 – 56 .
[10] de Meij TG, van der Schee MP, Berkhout DJ, et al. Early detection of necrotizing enterocolitis by fecal volatile organic compounds analysis. J Pediatr 2015; 167: 562 – 7.
Inhalt teilen