Die spinale Muskelatrophie (SMA) beruht auf einer homozygoten Deletion im Survival-motoneuron (SMN)1-Gen. Das SMN-Gen kodiert für das SMN-Protein, dessen Fehlen zum Untergang von Motoneuronen führt. Für die Produktion von SMN-Protein ist in erster Linie das SMN1-Gen entscheidend; in reduziertem Ausmaß kann jedoch auch das nahezu identische SMN2 dazu beitragen. Daher korreliert die Erkrankungsschwere bei der SMA ganz entscheidend mit der Anzahl der SMN2-Kopien. Fehlt SMN2 vollständig, ist dies nicht mit dem Leben vereinbar. Liegen nur eine oder zwei SMN2-Kopien vor, verläuft die Erkrankung besonders akut und schwer (SMA Typ I). Unbehandelt werden die betroffenen Kinder in der Regel bereits in den ersten Lebenswochen symptomatisch, erlernen das freie Sitzen nicht und werden innerhalb der ersten Lebensjahre beatmungspflichtig. Dagegen verfügen Kinder mit SMA Typ II über 2 bis 3 SMN2-Kopien. Sie werden meist in den ersten 18 Lebensmonaten symptomatisch und sind unbehandelt nur selten in der Lage, das freie Laufen zu erlernen. Milder ist der Verlauf bei der SMA Typ III, die sich bei Vorliegen von 3 bis 4 SMN2-Kopien entwickeln kann.
Da es inzwischen Medikamente gibt, die den Krankheitsverlauf deutlich modifizieren können, wurde 2021 auf Beschluss des Gemeinsamen Bundesausschusses das SMA-Screening in den Katalog des allgemeinen Neugeborenenscreenings aufgenommen. Zuvor war dieses Screening ab 2018 in einer Pilotstudie in Münster, Essen und München getestet worden.
Im SMARTCARE-Register werden Daten von SMA-Patienten aus 70 teilnehmenden Zentren in Deutschland, Österreich und der Schweiz gesammelt. Anhand dieser Daten wurde nun im direkten Vergleich evaluiert, was das SMA-Screening für die Kinder tatsächlich bringt. Eingeschlossen waren 234 SMA-Patienten, die zwischen Januar 2018 und September 2021 geboren wurden und die maximal 3 SMN2-Kopien aufwiesen. Die Erkrankung war bei 44 Kindern im Rahmen der Pilotstudie per Screening diagnostiziert worden; bei den übrigen 190 hatte sie sich im Verlauf durch Symptome bemerkbar gemacht. Für alle liegen inzwischen Nachbeobachtungsdaten bis zum Alter von mindestens 18 Monaten vor; zum Zeitpunkt der Auswertung betrug das durchschnittliche Alter der Kinder 30 Monate.
In der Screening-Kohorte hatten 31 Kinder (70,5 %) zwei SMN2-Kopien und 13 (29,5 %) drei Kopien, während man in der klinisch diagnostizierten Kohorte bei 110 Kindern (58%) zwei und bei 79 (42 %) drei Kopien fand. Ein Kind verfügte nur über eine einzige Kopie. Das durchschnittliche Alter bei Diagnosestellung betrug in der Screening-Gruppe 0,4 Monate; ohne Screening wurde die Diagnose erst mit 10 Monaten gestellt. Die spezifische Therapie konnte in beiden Gruppen innerhalb eines Monats eingeleitet werden. Zu diesem Zeitpunkt lagen bei 11 Kindern (25 %) der Screening-Gruppe Symptome vor – ausnahmslos Kinder mit nur 2 SMN2-Kopien.
Die motorischen Meilensteine sprechen eine deutliche Sprache: So konnten 40 Kinder (91 %) der Screening-Kohorte nach median 9 Monaten frei sitzen, während dies nur 141 Patienten (74 %) der Kontrollgruppe gelang – und dies erst nach median 14 Monaten. Das Laufen erlernten 28 Screening-Kinder (64 %) mit median 17 Monaten. Das waren mehr als viermal mehr als im Kontrollarm mit 28 Kindern (15 %), die zu diesem Zeitpunkt im Schnitt bereits knapp zwei Jahre (median 23,5 Monate) alt waren.
Von den gescreenten Patienten benötigten 3 (7 %) im Verlauf eine intermittierende Atmungsunterstützung. Unter den klinisch diagnostizierten Kindern waren 11 (6 %) bereits bei Therapiebeginn permanent auf eine maschinelle Beatmung angewiesen und 19 (11 %) wurden intermittierend beatmet. Im Verlauf der Therapie wurden 5 (3 %) weitere Patienten dauerhaft und 32 (17 %) zeitweise beatmungspflichtig. Im Verlauf der Therapie stabilisierte sich der Zustand bei 2 per Screening und 6 klinisch diagnostizierten Kindern so weit, dass sie wieder vom Beatmungsgerät entwöhnt werden konnten. Insgesamt lag der Anteil der Ventilator-abhängigen Kinder im Verlauf also bei 2 vs. 32 %.
Auch die Ernährung gestaltete sich einfacher für die Kinder der Screening-Gruppe: Nur 2 von ihnen (5 %) mussten per Sonde ernährt werden im Vergleich zu 52 (27 %) klinisch diagnostizierten Patienten. Darüber hinaus traten bei den gescreenten Patienten deutlich seltener klinisch relevante unerwünschte Ereignisse auf (12 (durchschnittlich 0,3 pro Patient) vs. 242 (durchschnittlich 1,3 pro Patient)); der Anteil der Hospitalisationen aufgrund unerwünschter Ereignisse sank auf unter ein Drittel.
Fazit: Das Screening und die damit verbundene Möglichkeit, die Therapie häufig schon vor Auftreten von Symptomen zu beginnen, verbessert die Prognose der betroffenen Kinder erheblich. Sie erreichen motorische Meilensteine öfter und früher, während ihnen Komplikationen wie Beatmung, Sondenernährung oder Krankenhausaufenthalte aufgrund unerwünschter Ereignisse häufiger erspart bleiben. Denkbar ist jedoch, dass Kinder mit einer sehr milden SMA-Verlaufsform ohne Screening möglicherweise bis zum Alter von 18 Monaten noch immer asymptomatisch sind und deshalb erst später im Verlauf diagnostiziert werden. Diese Kinder wären in der klinischen Diagnose-Gruppe dann nicht erfasst worden. Dies könnte die Ergebnisse etwas verzerrt haben, schränkten die Autoren ein.
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